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Die Adventsüberraschung

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Die Adventsüberraschung Foto: Karin & Uwe Annas/AdobeStock

Iserbrook/Elbvororte (23. Dezember 2022, Markus Krohn) Der Iserbrooker Autor und Kita-Berater Michael Schaaf hat diese rührende Weihnachtsgeschichte aufgeschrieben. Mit dieser Geschichte wünschen wir Ihnen, liebe Leserinnen und Lesern frohe Weihnachten!

Der alte Mann saß am Küchentisch. Er war sehr müde. Sein Kopf mit den vollen weißen Haaren ruhte schwer auf den aufgestützten Armen. Es war der erste Sonntag im Dezember. Ein heftiger Wind wirbelte dichte Schneeflocken am Fenster vor-
über, heulend pfiff er um das kleine Häuschen am Ende der Straße. Der alte Mann zog die Strickjacke fröstelnd enger um seine schmalen Schultern und rieb sich die sehnigen Hände. Mit abwesendem Blick drehte er die zwei goldenen Eheringe an seinem Finger. Acht Jahre war es her, dass er sich den Ring seiner Frau übergestreift hatte, acht lange, traurige Jahre.
Er hatte die große Liebe seines Lebens verloren, und ein Teil von ihm war mit ihr gestorben und beerdigt worden. Der alte Mann wusste, dass er vor Schmerz über den allumfassenden Verlust verbittert, ungerecht und hart geworden war. Er hatte sich von seinem Umfeld abgewandt, seine Nachbarn vergrault, seine Freunde enttäuscht. Schlimmer noch, er hatte seinen Sohn verstoßen. Sein einziges Kind hatte er vor sechs Jahren bei ihrem bösen Streit zuletzt gesehen. Zu viele verletzende Worte waren gefallen. Eine Versöhnung hatte es nie gegeben. Der alte Mann war seitdem sehr einsam. Er spürte, dass er bald wieder bei seiner Frau sein würde. Ein trauriges Lächeln stahl sich bei diesem Gedanken in sein faltiges Gesicht. Wie sehr er sie vermisste. Jeden einzelnen Tag in seinem Leben.

Das Klingeln an der Haustür erschreckte ihn. Wer konnte das sein? Er bekam nie Besuch. Die Leute hatten irgendwann begriffen, dass er alleine sein wollte. Langsam drückte er sich mit den Händen vom Tisch ab und stand mühsam auf. Der alte Mann schlurfte in seinen abgewetzten Pantoffeln den Flur entlang. Im Haus brannte kein Licht, obwohl es draußen bereits dunkel wurde. Durch ein kleines Sichtfenster oben in der Haustür sah er hinaus. Es war niemand zu sehen. Rotzlümmel, murmelte er bei dem Gedanken an einen Klingelstreich und ging zurück in die Küche, als es erneut klingelte. Überrascht blieb er stehen. Er drehte um und öffnete verärgert die Tür, bereit, den Störenfried kräftig auszuschimpfen.
Die unflätigen Worte blieben ihm im Hals stecken, als er den kleinen Jungen mit den großen Augen erblickte, der ihn aufmerksam beobachtete. Schneeflocken hingen in seinen blonden Haaren, er trug eine dunkelgrüne Winterjacke und einen roten Schal. Der alte Mann erschrak, so vertraut erschien ihm die kleine Gestalt. Eine Gestalt aus einer glücklichen Vergangenheit.
Der Junge, vier, höchstens fünf Jahre alt, bewegte seine Lippen. Mit Verzögerung drangen die Worte in die Ohren des alten Mannes und die Bedeutung dieser Worte in seinen Verstand vor. „Wie bitte?“, flüsterte er mit belegter Stimme. „Bist du mein Opa?“, fragte der Kleine noch einmal. Neugierig sah er zu ihm hoch. Dem alten Mann war es, als bliebe sein Herz stehen. Er konnte nicht atmen, kein Wort brachte er über die Lippen.
„Papa sagt, dass du mein Opa bist“, stellte der Junge überzeugt fest.

Der alte Mann sah sich um. Niemand sonst war zu sehen. Der Schneefall hatte zugenommen, der Wind war schneidend kalt. „Komm rein“, sagte er. Der Kleine sprang an ihm vorbei wie ein „lummi und blieb vergnügt im Flur stehen. Er streifte die Winterstiefel von seinen Füßen, ließ Ja- cke und Schal auf den Fußboden fallen und sagte: „Es ist ganz schön dunkel bei dir, Opa. Da hast du aber Glück gehabt, dass ich dir ein Geschenk mitgebracht habe.“ Fröhlich drückte er dem alten Mann einen in rotes Papier eingewickelten Gegenstand in die Hände.
Verblüfft sah der Alte auf das Geschenk. Langsam ging er in die Küche, drückte auf den Lichtschalter und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Das Geschenk legte er vor sich auf den Tisch. Der Kleine setzte sich ihm gegenüber und lächelte ihn mit großen Augen an.
„Du musst sie auspacken“, sagte er. „Ich habe sie im Kindergarten für dich gemacht. Unsere Erzieherin hat gesagt, wir sollen sie unseren Großeltern schenken, es uns mit ihnen gemütlich machen und uns erzählen lassen, wie man früher Advent und Weihnachten gefeiert hat. Erzählst du es mir, Opa?“
Der alte Mann sah den Jungen ungläubig an. „Wie heißt du, Kleiner?“, fragte er leise. „Jonathan.“ „Wie heißt dein Papa?“ „Moritz.“ Der alte Mann atmete tief durch. Moritz. So hieß sein Sohn. Ihm saß leibhaftig sein Enkelkind gegenüber. Ein Enkel, von dessen Existenz er bis heute nichts gewusst hatte. Ein Enkel als Engel im Advent.
„Opa, packst du sie jetzt aus?“ „Was? Ja, das mache ich.“ Vor-sichtig zerriss er das Papier. Zum Vorschein kam eine dicke, schneeweiße Kerze, die mit viel buntem Wachs verziert worden war. Er erkannte ein Herz, Tannenzweige und einen Regenbogen über dem Schriftzug „Mit Gott groß werden“. Der Kleine zeigte mit seinem Finger darauf. „Das hat unsere Erzieherin geschrieben, alles andere habe ich gemacht. Wie findest du sie?“ Die Finger des alten Mannes glitten behutsam über das glatte Wachs.“ Schön“, murmelte er. „Sie ist wunderschön. Vielen Dank, mein Junge.“
„Machst du sie an?“, bat ihn sein Enkel. Der Alte kramte eine Packung Streichhölzer aus der Schublade hervor und zündete die Kerze an. Der Kleine sprang vom Stuhl, schaltete die Deckenlampe aus und setzte sich wieder hin. Fasziniert schaute er auf die züngelnde flamme und sagte: „Oh, das ist aber gemütlich, Opa, oder?“
Der alte Mann nickte gerührt. Er sah in das flackernde Licht und begriff, dass ihm heute mehr als nur eine Kerze geschenkt worden war, – so viel mehr. Tränen liefen langsam über sein schmales Gesicht und blieben in weißen Bartstoppeln hängen. Einen Augenblick sahen der Großvater und sein Enkel still der am Docht tanzenden Flamme zu. Der alte Mann musterte den Jungen, sein dichtes blondes Haar, seine strahlenden blauen Augen, seine geröteten Bäckchen.
„Bevor ich uns beiden einen Kakao mache und dir von früher erzähle“, flüsterte er zärtlich, „musst du mir noch sagen, wann du abgeholt wirst, einverstanden?“ „Mama und Papa wollten in einer Stunde nachkommen“, verriet ihm der Kleine.
Der Alte lächelte zufrieden. Er füllte Kekse in eine Glasschale, machte warmen Kakao und stellte zwei dampfende Becher vor sie auf den Tisch. Dann erzählte er seinem staunenden Enkel von den Weihnachtsfesten seiner Kindheit.
Und während der alte Mann hoffnungsvoll auf die Ankunft seines Sohnes wartete, verdrängten der Anblick seines kleinen Advent-Engels und der helle Schein der Kerze zunehmend die Dunkelheit aus seinem Herzen. Michael Schaaf (www.autor-michael-schaaf.de)

Letzte Änderung am Freitag, 23 Dezember 2022 10:28